Prolog

 

Schwarz. Es war alles schwarz. Seine Umgebung, seine Sicht, sogar Er selbst. Verwirrt sah Er sich um, doch Er konnte nichts erkennen. Alles, was Er fühlte, war ein undefinierbarer Schmerz. Ein Schmerz, der sich tief in seine Seele gefressen hatte. Ein Schmerz, den Er seit Jahrtausenden in sich vergraben hatte. Ein Schmerz, den Er nie wieder loswerden würde. Ein Schmerz, der ihn aufweckte. Er brüllte auf und löste seine Fesseln. Ein Splittern nach dem anderen erfüllte die Dunkelheit und mit jedem nächsten Atemzug zerstörte Er seine Fesseln weiter. Bis ihn nichts mehr hielt, außer der Finsternis und sein Schmerz.

Seine Augen, die nichts als Dunkelheit sahen, öffneten sich langsam und mit ihnen bekam das Schwarz feine weiße Risse. Ein Netz aus weißen Rissen erstreckte sich über die Schwärze und ließ Lichtstrahlen in die Dunkelheit. Die Risse vergrößerten sich, wurden breiter und vertrieben die Schwärze, bis er von weißem gleißendem Licht umgeben war. Geblendet schloss Er die Augen, und als Er sie wieder öffnete, sah Er eine Welt, die Er seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen hatte. Über ihm hing ein Blätterdach aus immergrünen Blättern, die im Wind hin und her wehten und dabei leise raschelten. Sein Blick richtete sich auf eines der Blätter, welches eine rötliche Farbe angenommen hatte. Er fing an zu schmunzeln und streckte sich. Dabei hob Er seine makellosen bleichen Hände, um sie zu begutachten, und drehte sie im Wind. Langsam, damit Er seinen Körper fühlen, jeden Muskel spüren und seinen Herzschlag hören konnte, richtete Er sich auf. Sein Blick fiel auf einen dicken Baumstamm, der sich dicht hinter ihm befand. Er streckte seine Hand aus, berührte die Rinde des Stammes und konnte spüren, wie das Leben des Baumes ihm Kraft gab. Magie floss in ihn hinein, umschmeichelte seinen Geist und stärkte seinen Körper. Er wollte mehr, mehr vom Leben des

Baumes. Gierig lehnte er sich an den Baumstamm und blickte auf das Blätterdach über sich. Wieder fand sein Blick das rötliche Blatt. Während Er das Blatt anstarrte, veränderten auch die anderen Blätter ihre Farbe, bis das ganze Blätterdach rot schimmerte. Einzelne Blätter fielen tot zu Boden.

Rot, dachte Er, ist meine Farbe. Mit diesem Gedanken erhob Er sich und zog das letzte Fünkchen Leben aus dem Baum. Seine Beine, die Er seit langem nicht mehr benutzt hatte, waren immer noch muskulös und trugen ihn ohne Probleme. Seine Schritte waren am Anfang noch zögerlich, doch schon bald lief Er ohne große Mühe. Sein Ziel war eine große Höhle, die sich in der Mitte des Waldes befand.

Eine Höhle, die sein war und in der Er sich vor Augen verstecken konnte, die ihn nicht finden sollten. Zielstrebig lief Er los, genoss den Wind in seinen Haaren und dessen zärtliche Berührungen auf seinem Körper. Ein Körper, den Er längst vergessen glaubte. Zu lange war es her, seit Er in menschlicher Gestalt gewesen war.

Nach einiger Zeit erreichte Er eine Lichtung, durch die ein kleines Bächlein floss. Seine ausgetrocknete Kehle erinnerte ihn daran, wie durstig Er war. Er schlenderte zum Wasser und sank am Ufer in die Knie. Seine Hand streckte Er in das kühle Nass, ließ sie von der sanften Strömung umspülen und bog sie leicht. Gierig trank Er das kühle Wasser aus seiner Hand. Er war so in das Trinken versunken, dass Er nicht merkte, wie Er von einer Kreatur beobachtet wurde.

Das leise Knurren, das aus dem Wald kam, schreckte ihn auf. Sofort sprang Er auf und sah sich alarmiert um. Er entdeckte zwei blaue Augen, die ihn beobachteten. Vorsichtig wich Er zurück, um der Kreatur zu zeigen, dass Er ihr nicht schaden wollte. Doch das Wesen sah ihn als Feind und griff schnell an. Weiße Fangzähne gruben sich in seinen Arm und Er schrie schmerzerfüllt auf. Vor Schmerz verschwamm seine Sicht, und als sie sich wieder klärte, konnte Er die Kreatur erkennen, die ihn angriff. Was Er sah, verschlug ihm die Sprache. Ein oranger Drache stand vor ihm. Die Flügel des Drachen waren gespreizt und seine blauen Augen warfen

zornige Blicke. Hasserfüllt blickte Er das Wesen an, welches sein größter Feind war. Vor Wut über seine Schwäche, dass Er verletzt wurde, schrie Er den Drachen an. Doch der Drache ließ seinen Arm nicht los, sondern verstärkte seinen Griff noch mehr. Er spürte, wie die Fangzähne des Drachen seinen Arm zerquetschten und seine Knochen splittern ließ. Schmerz schoss seinen Arm hinauf und ließ ihn in erlösende Dunkelheit fallen. Sein Geist wurde schwerelos und glitt tief in seine Seele hinab. Vor seinem geistigen Auge erschienen die Konturen einer silbernen Kugel.

Zu klein, dachte Er, doch für den Anfang sollte es reichen.

Er streckte eine Hand aus und berührte die Kugel. Sofort wurde ihm wärmer und silberne Fäden lösten sich aus der Kugel, die sich zu einem Schwert zusammenfügten. Einem Schwert mit grüner Klinge, so scharf, dass sie durch Muskeln und Knochen schnitt. Der elfenbeinfarbene Griff rundete die Brutalität ab, welche dem Schwert innewohnte. Er nahm das Schwert in die Hand, strich vorsichtig über die Klinge und spürte, wie der Schmerz in seinem Arm gelindert wurde. Die silberne Kugel leuchtete grell auf und riss ihn aus der Bewusstlosigkeit.

Er fand sich am Boden liegend wieder. Der Drache hatte inzwischen seinen Arm losgelassen und hatte sich von ihm abgewandt. Der Drache dachte wohl, Er wäre am Blutverlust gestorben, doch da irrte er sich. Ein hämisches Lachen stieg in ihm auf und mit aller Kraft stieß Er sich vom Boden ab. Mit einem gezielten Schwertstoß traf Er den Drachen am Hinterbein und genoss, wie der Drache schmerzerfüllt aufschrie. Die Bestie drehte sich schnell um und wollte ihn mit einer seiner Krallen aufschlitzen. Doch Er wich der Kralle aus und ging zum Angriff über. Mit beiden Händen umfasste Er das Schwert und stieß es tief in die Brust des Drachen. Blut spritzte über die orangen Schuppen und ergoss sich über seinen nackten Körper. Er wollte gerade triumphierend aufbrüllen, als Er spürte, wie der Drache sich bewegte. Frustriert stellte Er fest, dass die Klinge das Herz verfehlt hatte. Mit einem Ruck zog Er das Schwert aus der Wunde und wollte zum finalen Schlag ausholen, doch da breitete der

Drache seine Flügel aus und schwang sich in die Lüfte. Blut übergoss die Wiese, als die Bestie geschwächt davonflog.

Schweigend blickte Er dem Drachen nach, und als er aus seinem Blickfeld verschwand, schrie Er seinen Sieg hinaus. Bevor Er sich abwandte und in den Wald lief, flüsterte Er leise vor sich hin: „Ich bin wieder da.“

 

Der Drache und das Mädchen

 

Angst, dachte Kasumi. Ja, so muss sich Angst anfühlen. Verwirrt von ihren Gedanken, schüttelte sie den Kopf und blickte in die himmelblauen Augen des Drachen. Diese musterten sie von oben herab. Als der Drache seinen Kopf beugte, um auf der gleichen Höhe zu sein wie sie, quoll aus seinen Nüstern Rauch. Er verzog sein Maul, dabei sah Kasumi die weißen Fangzähne aufblitzen. Abfällig sagte er: „Ich dachte, du hättest deine Angst überwunden.“

Ja, das dachte ich auch. Jedoch wagte sie es nicht, den Gedanken laut auszusprechen. Als sie nichts erwiderte, fing der Drache an zu lachen, sodass die Erde bebte. Seine orangen Schuppen reflektierten dabei das Licht und seine blauen Augen leuchteten auf.

Kasumi wich rasch zurück, als sie die Klaue sah, die der Drache nach ihr ausstreckte. Knapp vor ihr schlug die Klaue auf den Boden und verursachte ein Beben. Zitternd fiel Kasumi auf die Knie. Sie hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal solche Angst verspüren konnte. Nur wenige Zentimeter vor ihr erblickte sie die scharfen Krallen, die so lang waren wie ihr Unterarm. Als eine zweite Klaue dicht neben ihr auf den Boden schlug, blickte sie panisch zu dem Drachen auf. Doch in dessen Augen konnte sie keine Wut erkennen, nur Belustigung. Langsam dämmerte es ihr, dass der Drache sich einen Spaß daraus machte, ihre Angst zu verstärken.

„Hör auf!“, schrie sie den Drachen an.

Dieser lachte noch lauter. Dabei fing sein ganzer Körper an zu beben. Noch immer zitternd, saß Kasumi vor dem Drachen. Als dieser ihre Angst bemerkte, hörte sein Lachen abrupt auf und er ließ sich vorsichtig auf den Boden sinken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ein Menschenkind mich so zum Lachen bringen kann“, sagte der Drache und versuchte Kasumi wieder zu beruhigen.

„Ich bin kein Menschenkind, das weißt du genau!“, schrie sie den Drachen an.

Dieser fing wieder an zu lachen, dabei verzog er sein Gesicht, sodass es aussah, als ob er Schmerzen hätte.

Sofort sprang Kasumi auf. Ihr Blick glitt automatisch zu der Brust des Drachen, die rot vom Blut war. Mit langsamen Schritten näherte sie sich ihm. Dabei ließ sie den Drachen nicht aus den Augen und achtete auf die kleinste Bewegung. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass sich eines der drei Löwentigerjungen näherte. Seit sie den Drachen getroffen hatte, wurde sie von den Löwentigerjungen beobachtet. Das Junge ignorierend, schritt sie konzentriert weiter auf den Drachen zu, und als sie die verletzte Brust leicht berührte, brüllte er auf.

„Feron, jetzt halt endlich still. Ich kann dich nicht heilen, wenn du dich bewegst“, sagte sie zum Drachen. Ihre Angst war verschwunden, das Einzige, was übrig blieb, war die Angst um den Drachen. Dieser hielt auf die Worte von Kasumi hin still, beugte aber seinen Kopf zu ihr und gab zur Antwort: „Du solltest lieber die Hoffnung aufgeben. Die Wunde ist zu tief.“

Tränen traten in Kasumis Augen. Nur kurz stockte ihre Konzentration, wodurch Feron schmerzerfüllt zusammenzuckte.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich mit tränenreicher Stimme. „Es tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Nicht du warst diejenige, die mich verletzt hat.“ Der Drache schüttelte den Kopf und blickte auf die Lichtung; als würde dort sein Feind stehen. Doch nichts befand sich dort. Trotzdem wandte er seinen Blick nicht ab. Seine Augen nahmen jedes Detail war, so bemerkte er die drei Löwentigerjungen, die ohne Mutter versteckt im Unterholz alles beobachteten. Eines der drei saß weiter hinten. Es war jenes, das sich

vor seinem Brüllen auf die Lichtung gewagt hatte. Sein bronzefarbenes Fell, das vereinzelt von schwarzen Streifen unterbrochen wurde, sah im Schatten aus wie flüssiges Feuer.

„Du, Kasumi, erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?“, fragte Feron.

Kasumi hielt inne und sah zu dem Drachenkopf hoch. Leise seufzte sie und gab dann zur Antwort: „Wie könnte ich das vergessen? Ich mag mich noch genau erinnern. Es war bei der Höhle am Bach.“

Sie schaute in den Himmel und dachte an den Tag zurück, an dem ihr ganzes Leben verändert wurde.

Es war ein warmer, sonniger Tag gewesen. Kasumi hatte am Fluss gesessen und ließ ihre Füße in das kalte Wasser baumeln. Aber nicht einmal die Sonne konnte ihre trüben Gedanken aufhellen. Schon seit Wochen herrschte eine Seuche in den Nachbarsdörfern und wenn nicht bald ein Heilmittel gefunden würde, könnte auch ihr Dorf betroffen sein. Ihre Mutter arbeitete Tag und Nacht an einem Heilmittel, doch ohne Erfolg.

Teilnahmslos ließ Kasumi ihren Blick über das Dorf schweifen. Die kleinen Häuser reihten sich eng aneinander, sodass ein Durchkommen mit einem größeren Wagen kaum möglich war. Menschen tummelten sich in den Gassen und drängten zum großen Marktplatz.

Der Markt, das habe ich ja völlig vergessen, dachte Kasumi und zog rasch ihre Füße aus dem Wasser. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, heute am Verkaufsstand zu helfen.

Rasch trocknete sie ihre nassen Füße an ihrer Hose ab und zog die aus Wildleder hergestellten Stiefel an. Obwohl es für diese Jahreszeit zu warm war, wusste man nie, wann der erste Schnee einsetzen würde. Kaum, dass sie die Stiefel anhatte, sprang sie auf und lief den Hügel hinunter. In den Gassen herrschte, wie bereits angenommen, reges Treiben. Alle Menschen wollten auf den Marktplatz. Als sich die Gasse endlich zum Markt hin

öffnete, teilte sich die Menge und Kasumi konnte sich in Ruhe umsehen. Gemütlich schlenderte sie durch die Menge und betrachtete die einzelnen Waren. Dabei kam sie an der Statue von Nymue vorbei. Nymue hatte vor tausenden von Jahren ihr kleines Dorf gegründet. Die Legende berichtete, dass Nymue eine Elfe gewesen war, die den Drachen in ihrem Krieg beigestanden hatte. Um das Drachenland zu schützen, hatte sie vor dem Elfenwald ein Dorf errichtet, das bis heute noch existierte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Nymue ihre Vorfahrin war.

Als sie den Stand ihrer Mutter erreichte, blieb sie stehen und sah ihre Mutter an. Ihr kastanienbraunes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen und ihre grünen Augen schauten müde. Ihre Mutter hob den Kopf, und als sie Kasumi sah, hellte sich ihre Miene sofort auf. Sie kam hinter dem Stand hervor und umarmte ihre Tochter. Die Stärke ihrer Mutter überraschte Kasumi immer wieder, und als ihre Mutter sie nun drückte, bekam Kasumi fast keine Luft. Vorsichtig löste sie sich aus der Umarmung und sah ihre Mutter lächeln.

„Würdest du mir einen Gefallen tun?“, fragte sie ihre Tochter.

Kasumi nickte und nahm ihre Mutter bei den Händen. „Ich würde alles für dich tun, Mutter.“

Ihre Mutter holte tief Luft und sagte zu Kasumi: „Ich habe ein Heilmittel gefunden.“

Kasumi stockte der Atem. Sie glaubte nicht, was sie da hörte. Wenn das wahr ist, dann ... Vor Freude traten Tränen in ihre Augen und sie musste lachen. Sie konnte es nicht glauben, endlich hatte die Seuche ein Ende. Doch als sie den Druck auf ihren Händen spürte, blickte Kasumi zu ihrer Mutter auf. Ihre Miene war verschlossen und um ihren Mund hatten sich Falten gebildet, die nichts Gutes verhießen.

„Ich brauche aber teure Zutaten und viele der Kräuter finde ich hier nicht. Wenn ...“

Kasumi fiel ihrer Mutter ins Wort: „Ich könnte die Kräuter besorgen“, froh darüber, ihrer Mutter zu helfen.

Ihre Mutter strahlte. „Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Du musst in den Elfenwald gehen und das Tigerkraut suchen. Würdest du das tun?“

Kasumi fiel ihrer Mutter um den Hals und flüsterte in ihr Ohr: „Ich mache mich sofort auf den Weg.“

Sie ließ ihre Mutter los und suchte sich einen Weg durch die Menge. Dabei musste sie immer wieder den einen oder anderen Marktbesucher aus dem Weg drücken. Als sie das Ende des Marktplatzes erreichte, bog sie rechts ab und folgte der Straße, die aus dem Dorf führte. Sie war so glücklich darüber, dass die Seuche bald ein Ende hatte, dass sie beinahe in einen Mann in schwarzem Umhang hineinlief. In letzter Sekunde wich der Mann aus, sah aber kurz auf, sodass sie seine strahlend blauen Augen sah, die nicht menschlich wirkten.

Gegen Mittag erreichte Kasumi das kleine Haus, in dem sie mit ihrer Mutter lebte. Sie öffnete die Tür und trat in den stickigen Raum. Am anderen Ende des Zimmers loderte ein warmes Feuer in einem Kamin, das den Raum wärmte. Kasumi ging zum Feuer und legte ein Stück Holz nach, damit das Feuer noch bis in den Abend brannte.

Sie nahm ihre Tasche, die auf dem Holztisch in der Mitte des Raums lag, und füllte sie mit einem halben Laib Brot, einem Apfel, einem kleinen Stück Käse und einem Wasserschlauch. Damit sie sich gegen die wilden Tiere des Waldes wehren konnte, nahm sie den weißen Bogen ihrer Mutter mit. Den Köcher, der aus Löwenfell gefertigt war, füllte sie mit Pfeilen und hängte ihn über ihre Schulter. Obwohl sie nicht wusste, wie sie damit umgehen konnte, fühlte sie sich sicherer mit einer Waffe, und einen Bogen fand sie bedrohlicher als ein Küchenmesser.

Als sie alles gepackt hatte, trat sie aus dem Haus ins Sonnenlicht und schloss die knarzende Tür hinter sich. Sie folgte der Straße, bis sie den Wald erreichte. Nur wenige aus ihrem Dorf wussten, wie man in den Elfenwald gelangen konnte. Ihre Mutter hatte ihr den Weg gezeigt, als sie noch ein Kind war, und so fand sie problemlos den Waldeingang. Ein kleiner Torbogen markierte den Eingang. Auf dem Holz waren Wörter in

einer fremden Sprache geschrieben. Von ihrer Mutter wusste sie, dass diese Sprache schon lange in Vergessenheit geraten war, nur wenige Auserwählte der Götter beherrschten sie. Bevor sie auf den schmalen Trampelpfad trat, der tief in den Wald hineinführte, sprach sie ein stilles Gebet an die Götter und bat um ihre Erlaubnis, den Wald zu betreten.

Immer wieder kreuzten Tiere ihren Weg. Zum Glück waren es keine Raubtiere und Kasumi konnte jedes Mal erleichtert aufatmen, wenn sie nur ein Reh oder einen Hasen erblickte. Sie folgte dem Trampelpfad, bis dieser sie auf eine Lichtung führte. Ihr erstes Ziel. Als sie zur Sonne hinaufsah und die Zeit versuchte abzuschätzen, merkte sie, wie hungrig sie war. Sie blickte sich auf der Wiese um und sah einen kleinen Bach, der sich durch die Lichtung schlängelte. Sie beschloss eine kleine Pause zu machen, die Kräuter würden ihr schon nicht davonlaufen. Sie zog ihre Stiefel aus und ließ ihre Füße in das Wasser sinken. Vor Kälte fing sie an zu zittern, doch nach wenigen Sekunden gewöhnte sie sich an die Temperatur. Sie griff in ihre Tasche und holte den Apfel hervor. Genüsslich biss sie ein Stück ab. Langsam kaute sie das Apfelstück, damit sie den süßen Geschmack genießen konnte, und schluckte es dann hinunter. Sie wollte einen weiteren Bissen nehmen, als sie ein Brüllen hörte, das den ganzen Wald aufschreckte. Es hörte sich an, als sei das Wesen, das dieses Brüllen ausstieß, in Schwierigkeiten.

Einige Sekunden war Kasumi wie erstarrt. Ihre Mutter hatte sie immer vor den bösen Raubtieren im Wald gewarnt. Ein Schaudern überlief sie und sie zog rasch ihre Füße aus dem Bach, bereit, jederzeit wegzurennen. Erneut ertönte das Brüllen. Unsicherheit erfüllte Kasumi. Das Brüllen hörte sich nicht bösartig an, sondern eher schmerzerfüllt. Sie blickte auf ihren Bogen. Das weiße Holz schimmerte in der Nachmittagssonne wie eine helle Flamme. Ohne noch länger nachzudenken, packte sie den Bogen, stand auf und rannte in die Richtung, aus der das Brüllen kam. Dabei vergaß sie ihre Schuhe, sodass ihre Füße schon nach kurzer Zeit wund waren.

Sie hörte ein weiteres Brüllen, diesmal näher, und beschleunigte ihr Tempo. Äste streiften ihre Arme und fügten ihr kleine Kratzer zu. Der raue Waldboden schmerzte an ihren wunden Füßen, und bei jedem Tritt, den sie tat, durchzuckte sie ein Stich des Schmerzes.

Als sie vor einer Höhle zum Stehen kam, hatte sie fast keine Luft mehr und ihr Herz raste wie verrückt. Ihre Füße taten weh, doch als sie das Brüllen wieder hörte, das nun eher an ein Wimmern grenzte, vergaß sie ihren Schmerz und schlich zum Eingang der Höhle. Zur Sicherheit legte sie einen Pfeil auf die Sehne des Bogens.

Vor dem Eingang lag eine Kreatur mit orangen Schuppen, die sich zusammengerollt hatte. Das einzige Lebenszeichen der Kreatur war der Schwanz, der über den Boden zuckte und die Bäume nahe der Höhle niederwalzte.

Vorsichtig schlich sich Kasumi näher, bis sie beim Kopf der Kreatur ankam. Sie wollte gerade die orangen Schuppen berühren, als zwei himmelblaue Augen sie ansahen. Vor Schreck wich Kasumi zurück und stolperte über den Schwanz der Kreatur.

Die blauen Augen kamen näher und die Kreatur hob den Kopf. In diesem Moment begriff Kasumi, dass vor ihr ein ausgewachsener Drache lag. Panik ergriff sie und sie versuchte von dem Ungeheuer wegzukommen. Doch der Drache schlang seinen Schwanz um sie und hob sie in die Luft. Ihr stockte der Atem. Angst zerrte an ihren Nerven, als sich der Kopf mit den himmelblauen Augen näherte. Warme Luft strich über ihren Körper und vertrieb die Angst. Der Kopf des Ungeheuers befand sich direkt vor ihr und war größer als sie. Der Drache blies seinen Atem in ihre Richtung. Dabei schlossen sich seine Augen. Als er sie wieder öffnete, setzte er sie auf den Boden und legte seinen riesigen Kopf auf die Erde. Erst da wagte Kasumi wieder zu atmen, und auch die letzten Reste der Angst verschwanden, als sie begriff, dass der Drache ihr nichts tun würde.

„Du bist eine Heilerin“, sagte der Drache plötzlich.

Kasumi öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch als ihr klar wurde, dass der Drache mit ihr gesprochen hatte, blieben ihr die Worte vor Verblüffung im Hals stecken. Der Drache seufzte gelangweilt.

Kasumi wollte gerade etwas sagen, als der Drache schmerzerfüllt aufbrüllte. Sofort stand sie auf und fragte besorgt: „Was ist los, bist du verletzt?“

Der Drache schüttelte seinen mächtigen Kopf.

„Es ist nichts, nur eine kleine Wunde.“

Vor Sorge runzelte Kasumi die Stirn und trat ganz nahe zum Drachen

hin. Sie legte ihre Hand auf die orangen Schuppen, zog sie aber sofort wieder zurück.

„Du glühst ja“, sagte sie besorgt und blickte auf ihre rote Hand, auf der sich bereits Blasen bildeten.

Der Drache jedoch wollte davon nichts wissen und wandte sich von ihr ab. Verwirrt über dieses Verhalten, setzte sich Kasumi wieder hin. Als der Drache abermals aufbrüllte, stand Kasumi auf und sagte entschlossen zu ihm: „Ich bin eine Heilerin, ich könnte dich heilen.“

Der Drache schnaubte und schüttelte den Kopf. „Diese Wunde kann man nicht heilen. Nicht einmal eine Elfe könnte dies.“

„Dann lass mich dir deine Schmerzen nehmen.“

Der Drache drehte seinen Kopf und sah ihr in die Augen. Verwundert fragte er: „Kannst du das wirklich tun?“

Kasumi nickte heftig und berührte die Schuppen noch einmal. Fast hätte sie wieder die Hand weggezogen, doch sie wollte dem Drachen unbedingt helfen und so schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich. Vor ihrem inneren Auge erschien eine goldene Kugel. Aus der zog Kasumi ihre Kraft und ließ sie frei. Der Drache wurde von einem goldenen Licht umhüllt und als es nachließ, seufzte der Drache zufrieden auf.

„Ich heiße übrigens Feron“, sagte der Drache in einem freundlichen Ton. „Ich bin Kasumi.“

Ein Brüllen riss Kasumi aus ihrer Erinnerung. Sie sah besorgt zu Feron, doch dieser hatte sich nicht bewegt. Er hob seinen mächtigen Kopf und schnupperte in der Luft. Seine Lefzen zogen sich zurück und er fing an zu knurren.

„Kasumi, hör mir jetzt gut zu. Du musst in die Drachenwelt gehen und eine Audienz beim Drachenkönig verlangen. Erzähl ihm von meinen Wunden und dass das Land in Aufruhr ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Er wieder bei vollen Kräften ist. Gib dem Drachenkönig diese Kugel.“ Feron schloss die Augen und fing an, orange zu leuchten. Vor seinem Kopf erschien eine orange Kugel. Als er die Augen öffnete, fiel die Kugel in seine ausgestreckte Klaue. Vorsichtig gab Feron ihr die Kugel.

„Du darfst diese Kugel auf keinen Fall verlieren. Hast du mich verstanden?“

Kasumi nickte.

„Gut, dann geh jetzt.“

„Aber Feron ...“ Tränen liefen Kasumi über die Wangen. Sie wusste,

würde sie jetzt gehen, würde sie ihn nicht wiedersehen.

Der Drache senkte den Kopf und lächelte Kasumi an. „Ich werde dich wiedersehen. Aber nun geh.“ Mit einer Klaue strich er Kasumi über den

Kopf und zerzauste ihre weißen Haare.

Schwankend stand Kasumi auf und umarmte den großen Drachenkopf. „Pass auf dich auf“, sagte sie zu ihm und lief in den Wald.

Als sie Ferons Brüllen hörte, wusste sie, dass sie ihn nie wiedersehen

würde. Mit tränenden Augen rannte sie durch den Wald. Sie stolperte über eine Wurzel und fiel zu Boden. Doch als sie ein weiteres Brüllen von Feron hörte, das wie ein Schmerzensschrei klang, stand sie schnell auf und lief weiter.

Sie erreichte die Lichtung mit dem Bach. Ihr weißer Bogen lag auf dem Boden und die Pfeile steckten in den Bäumen. Feron hatte sie gelehrt, wie man richtig schoss. Schnell sammelte sie ein paar der Pfeile ein, steckte sie

in den Köcher und rannte mit dem Bogen in der Hand und dem Köcher auf der Schulter weiter.

Schon bald erreichte sie das Ende des Waldes und trat erleichtert in das Licht. Ein letztes Mal sah sie sich den Wald an und kehrte ihm dann den Rücken zu. Langsam und am Ende ihrer Kräfte kehrte sie nach Hause zurück.

Es dunkelte bereits, als sie das Haus erreichte. Ihre Mutter war noch nicht zu Hause, doch es war ihr egal. Momentan brauchte sie nur Ruhe. Müde sank sie in ihr Strohbett. Eine Zeit lang dachte sie noch an die orange Kugel, die ihr Feron gegeben hatte, doch bald schon glitt sie in den Schlaf. Dabei wurde sie, wie schon so oft, von Träumen heimgesucht.

Sie stand auf einer Klippe, unter ihr war nichts als Luft und hinter ihr stand ein großer feuerroter Drache mit goldenen Augen.

„Spring, kleiner Drache, dir wird nichts passieren“, sagte er mit einer lieblichen Stimme, die nicht zu seiner Größe passte.

Voller Angst und gleichzeitig voller Faszination sah Kasumi in den Abgrund. Ihre Angst schwand, als sie den Erdboden hunderte von Metern unter sich sah. Ein silbernes Flussband schlängelte sich durch die grüne Landschaft. Sie wollte gerade springen, als ein Flammenmeer die Luft ausfüllte und alles verbrannte. Kasumi wich zurück, doch der große Drache stand hinter ihr und ließ sie nicht durch.

„Das Feuer ist unser Element.“ Mit diesen Worten schob er Kasumi in den Abgrund und sie fiel in die Feuerbrunst. Sie schrie auf und ...

Und befand sich in ihrem Bett. Das Bettlaken war zerwühlt und die Decke lag am Boden. Ein oranges Licht erhellte ihr Zimmer. Panisch sah sie sich um, in der Angst, das Haus würde brennen. Doch als sie die Lichtquelle ausmachte, atmete sie erleichtert aus. Das Licht strahlte aus ihrer Tasche. Vorsichtig näherte sie sich der Tasche und als sie die Tasche öffnete, fiel die Kugel von Feron heraus und erstrahlte in einem orangen Licht. Geblendet schloss Kasumi die Augen. Öffnete sie aber nach kurzer Zeit wieder.

Es ist wunderschön, dachte sie.

Zuerst war es nur orange, doch als sie es länger betrachtete, sah sie himmelblaue Fäden herumschwirren. Fasziniert beobachtete sie die Kugel. Nach und nach verdunkelte sich das Licht und die Helligkeit ließ nach. Die himmelblauen Fäden verschwanden und das Orange wurde dunkler. Als das Licht erlosch, leuchtete die Kugel für einen Moment nochmals auf, bevor sie sich schwarz färbte. Mit zittrigen Fingern hob Kasumi die Kugel auf und legte sie wieder in ihre Tasche. Sie war enttäuscht, dass das Licht nicht länger gebrannt hatte, und ging wieder zum Bett. Müde hob sie die Decke auf, fiel ins Bett und kuschelte sich ein. Diesmal hatte sie keine seltsamen Träume.

 

Die Fremden

 

Vereinzelte Sonnenstrahlen durchdrangen die Vorhänge des Fensters und weckten Kasumi auf. Verschlafen wälzte sie sich in ihrem Bett und zog die Decke über ihr Gesicht. Doch das Klopfen an ihrer Tür ließ sie nicht zu Ruhe kommen. Frustriert zwängte sie sich aus dem Bett und blickte sich in ihrem Zimmer um. Dabei fiel ihr Blick auf Ferons Kugel, die in einem unheimlichen Schwarz schimmerte. Sofort überkam sie wieder Traurigkeit und sie wollte nichts lieber, als sich wieder in ihr Bett zu flüchten.

„Kasumi, das Essen ist gleich fertig. Steh endlich auf!“, rief ihre Mutter und bewahrte Kasumi so vor einem Tag im Bett. Sie holte ihre Kleider von der Kommode und zog sich an. Ihre Kleidung war schlicht. Eine Hose aus brauner Wolle, die sie verabscheute, da die Wolle auf ihrer Haut kratzte, und ein weißes Hemd aus Leinen, dazu noch eine grüne Weste.

Sie trat vor eine große Eisenscheibe und sah sich an. Ihre weißen Haare, die von einzelnen goldenen Strähnen durchzogen waren, sahen wie das reinste Chaos aus, und ihre amethystfarbenen Augen waren von dunklen Schatten umrandet. Mit einer Bürste glättete sie ihr widerspenstiges Haar, bis es ihr wie ein Wasserfall über den Rücken fiel.

Als sie mit dem Ankleiden und dem Bürsten fertig war, trat sie aus ihrem Zimmer in den Raum mit dem Kamin. Ihre Mutter saß am Feuer und rührte in einem Topf.

„Könntest du die Schüsseln aus dem Schrank nehmen?“, fragte ihre Mutter.

Kasumi nickte und ging zum Schrank, der neben dem Tisch an der Wand stand. Vorsichtig zog sie die quietschenden Türen auf. Bereits vor einer Woche hatte sie eine der Schranktüren in der Hand gehabt und musste sie

mühsam wieder anbringen. Dies wollte sie nicht noch einmal machen. Auf dem obersten Brett fand sie die Schüsseln und noch zwei Gläser. Mit dem Geschirr ging sie zum Tisch und stellte die Gläser ab. Ihre Mutter hatte in der Zwischenzeit den Haferbrei vom Feuer genommen und füllte die Schüsseln. Dazu gab es noch ein Stück Brot und frische Milch.

Erst als das Mahl angerichtet war, merkte Kasumi, wie hungrig sie war. Rasch setzte sie sich hin und fing an zu essen. Obwohl Haferbrei nicht ihr bevorzugtes Essen war, schmeckte er an diesem Tag überaus gut. Ihre Mutter hatte ihn mit Honig gesüßt, weshalb sie nur langsam schluckte und das Essen genoss. Als sie mit dem Essen fertig waren, wusch Kasumi schweigend das Geschirr ab und ihre Mutter machte sich bereit für den Weg zum Dorf. An der Tür hielt sie inne und schaute zu Kasumi zurück.

„Gehst du heute nicht in den Wald?“, fragte sie.

Kasumi fiel von ihrem Stuhl. Sofort war ihre Mutter bei ihr und half ihr auf.

„Nein, ich gehe nicht in den Wald“, gab Kasumi zur Antwort und drehte den Kopf weg, damit ihre Mutter ihre Tränen nicht sah.

„Aber wieso nicht? Ich konnte dich seit drei Tagen nicht überreden, ins Dorf zu kommen, da du immer in den Wald gingst, und jetzt ...? Auf einmal willst du nicht mehr gehen.“ Ihre Mutter sah sie tadelnd an.

Kasumi konnte diesem Blick nicht standhalten. Sie stand auf und rannte in ihr Zimmer. Dabei stieß sie die Tür hinter sich zu und legte sich aufs Bett. Erst da ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie hörte noch, wie ihre Mutter aus dem Haus ging, bevor sich Kasumi in den Schlaf weinte.

Sie träumte von Feron und wie er ihr die Geheimnisse des Waldes zeigte. Gemeinsam saßen sie am Fluss und redeten über die Elfen. Er erzählte ihr fantastische Geschichten. Wie die Elfen die Drachen trafen und sich mit ihnen angefreundet hatten. Und wie der Elfenwald entstand.

Plötzlich saß sie nicht mehr am Fluss, sondern stand auf einem Feld voller Leichen. Überall war Blut, auf dem Boden, auf den Leichen, sogar in der Luft. Und über allem flog ein Drache. Er stürzte sich hinab auf einen

anderen Drachen mit orangen Schuppen, der eine klaffende Wunde an der Brust hatte. Kasumi begriff. Es war Feron, der verletzt war. Sie wollte zu ihm und ihn vor dem Drachen warnen, doch der Drache war schneller und stieß hinab. Mit seinen blutroten Klauen griff er Feron an, dabei öffnete er sein Maul. Schwarze Flammen verbrannten den orangen Drachen und Kasumi schrie auf. Tränen liefen über ihre Wangen.

Wieder wechselte das Bild. Sie saß auf einem Drachen mit goldenen Schuppen und flog über den Elfenwald. Vor ihr erstreckte sich das Grün des Waldes und hinter ihr lag ihr Dorf. Sie wollte, dass der Drache umdrehte, sie zurück zu ihrem Dorf brachte, doch er hörte nicht auf sie. Sie fing an, auf die goldenen Schuppen zu schlagen, doch es nützte nichts, der Drache flog immer weiter. Über die Welt hinaus und in ein helles Licht.

Kasumi schlug die Augen auf. Obwohl die Vorhänge geschlossen waren, erkannte sie, dass es draußen dunkel war. Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Sofort fing sie an zu zittern. Verwirrt darüber, dass es so kalt war, betrat sie den Raum mit dem Kamin. Das Feuer darin war erloschen. Schnell entfachte sie es von neuem und ließ sich von den Flammen wärmen.

Die Flammen erinnerten sie an die orange Kugel und an Ferons Schuppen. Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch sie weigerte sich zu weinen. Ich habe mich lang genug in Mitleid gesuhlt, dachte sie. Jetzt wird es Zeit zum Handeln.

Entschlossen stand sie auf, doch ein Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Noch nie hatten sie Besuch, nur ein einziges Mal kam der Dorfvorsteher zu ihnen, doch dies lag viele Jahre zurück. Vorsichtig ging Kasumi zur Tür. Am liebsten hätte sie sich ein Küchenmesser geschnappt, doch die bloße Vorstellung, die Besucher mit einem Messer in der Hand zu begrüßen, fand sie merkwürdig. So ließ sie das Messer auf dem Tisch liegen und öffnete vorsichtig die Tür. Davor standen zwei große Gestalten in schwarzen Umhängen.

„Bist du das Mädchen, das mit Feron sprach?“, fragte einer der Fremden sie.

Da Kasumi nicht wusste, was sie tun sollte, nickte sie.

„Dürfen wir eintreten?“, fragte der Fremde weiter.

„Meine Mutter ist nicht da, deswegen darf ich euch nicht reinlassen“,

versuchte Kasumi die Fremden abzuwimmeln.

Einer der Fremden fing an zu lachen und sein Gesicht, das unter einer

Kapuze verborgen gewesen war, kam zum Vorschein. Dabei sah Kasumi seine blauen Augen.

„Deine Mutter ist auf dem Weg“, sagte der andere Fremde, mit der seidenweichen Stimme einer Frau. „Keine Angst, wir werden dir nichts tun. Wir wollen nur mit dir reden.“

Widerwillig ließ Kasumi die zwei Fremden in ihr Haus, dabei glitt ihr Blick auf das Küchenmesser, hätte sie es doch vorher in die Hand genommen. Doch nun war es zu spät. Die beiden Fremden waren bereits eingetreten und zogen ihre Mäntel aus. Dabei erkannte Kasumi, dass die zwei Elfen waren. Die spitz zulaufenden Ohren und die katzenhaften Augen verrieten die Herkunft der Fremden. Es waren eine Frau und ein Mann. Neugierig musterte Kasumi die beiden Elfen. Die Frau trug braune Lederhosen und ein schlichtes grünes Gewand, das von einem Gürtel mit einem Dolch zusammengehalten wurde. Ihre blonden Haare fielen ihr wie flüssiges Gold über den Rücken. Der Mann war das genaue Gegenteil der Frau. Mit seinen schwarzen Lederhosen und dem schwarzen Gewand sah er furchterregend aus. Eine Narbe zog sich von seinem linken Auge bis zum Mund über sein Gesicht und rundete sein schauderhaftes Aussehen ab, doch seine hellblauen Augen sahen sie freundlich an. Nach einer Weile kam ihr in den Sinn, woher sie diese Augen kannte. Als sie auf dem Weg zum Elfenwald gewesen war, war sie mit einem Mann ganz in Schwarz zusammengestoßen, der hatte die genau gleichen Augen wie der Elf vor ihr.

Ob er sich daran erinnerte?, fragte sie sich. Doch der Elf sah sie nur stillschweigend an, sodass sie nicht wusste, ob er sie erkannt hatte oder nicht.

Sie verwarf den Gedanken und bot ihnen einen Platz am Tisch an, doch die Elfen lehnten beide ab. Sie setzten sich lieber vors Feuer und sahen in die Flammen. Nach kurzem Zögern ließ sich auch Kasumi vor dem Feuer nieder und beobachtete neugierig die Elfen.

„Feron hat dir etwas gegeben“, eröffnete der Elf das Gespräch.

Unsicher nickte Kasumi. Sie war sich nicht sicher, wie viel sie den Elfen erzählen sollte. Als jedoch die Elfen sie auffordernd ansahen, beschloss Kasumi, ihnen die Wahrheit zu sagen. „Ich soll es dem Drachenkönig bringen.“

Überrascht sahen sich die Elfen an.

„Was hat dir Feron gegeben und wieso musst du es dem Drachenkönig bringen?“, fragte die Elfe sie.

Kasumi zögerte kurz, doch auf das freundliche Lächeln der Elfe hin stand sie auf und holte die Kugel von Feron aus ihrem Zimmer.

„Das hat er mir gegeben. Warum, weiß ich nicht“, gestand Kasumi den Elfen.

Die zwei Elfen sahen sich die Kugel an, als sie von draußen plötzlich Schritte hörten. Die Tür öffnete sich knarzend und Kasumis Mutter trat ein. Mit einem umherschweifenden Blick durchquerte sie den Raum. Sie schien über den Besuch der Elfen nicht überrascht zu sein.

„Ich wusste, dass ihr kommen würdet“, sagte sie nur und legte ihren Korb, in dem sich Heilmittel befanden, auf den Tisch.

„Sie ist also deine Tochter, Arilena“, stellte die Elfe fest.

Arilena nickte und setzte sich zu ihnen. In der Zwischenzeit hatte der Mann die Kugel studiert und sagte: „Feron ist von uns gegangen.“

Kasumi hatte es gewusst, trotzdem liefen ihr Tränen über die Wangen. Ihre Mutter nahm sie in die Arme und tröstete sie. Dankend vergrub sie ihr Gesicht an Arilenas Brust und fing hemmungslos an zu weinen. Sie

erinnerte sich an ihre Schießübungen mit Feron und dass er sie ausgelacht hatte, wenn sie ihr Ziel verfehlt hatte. Weitere Tränen traten in ihre Augen. Erinnerungen an die Zeit, die sie mit Feron verbracht hatte, sah sie vor sich. Sie saßen vor der Höhle und erzählten sich Geschichten oder teilten sich ein Kaninchen. Kasumi wollte für immer in den Erinnerungen schwelgen, doch ein Räuspern ließ sie ihren Kopf heben und die Tränen wegwischen.

„Wir müssen sofort aufbrechen und dem Drachenkönig das Herz übergeben“, sagte der Elf, während er aufstand.

„Das Herz?“, fragte Kasumi verwundert.

„Ja. Das, was Feron dir gab, ist sein Herz, in dem alle seine Erinnerungen vorhanden sind. Wenn ein Drache stirbt, verfärbt es sich schwarz“, erklärte die Elfe Kasumi.

Auch sie stand auf und legte sich den Mantel wieder um. „Es wird Zeit, Kasumi, wir müssen gehen“, sagte der Elf. „Gehen? Wohin?“

„Ins Drachenland.“

Kasumi wollte nicht gehen. Sie wollte ihre Mutter nicht verlassen. Alles, was sie wollte, war, dass Feron wieder lebte. Wieder traten Tränen in ihre Augen.

„Lasst uns kurz allein“, sagte Arilena zu den Elfen.

Diese nickten und gingen aus dem Haus. Das Herz ließ der Elf auf dem Tisch liegen.

Arilena zog ihre Tochter auf die Beine und strich ihr die weißen Haare aus dem Gesicht.

„Als du auf die Welt kamst, wusste ich, dass du zu Großem bestimmt bist. Doch um das zu erreichen, musst du mit den Elfen gehen“, sagte ihre Mutter.

„Ich möchte dich nicht verlassen“, gestand Kasumi.

Arilena lächelte und umarmte ihre Tochter. „Sie werden gut auf dich aufpassen.“

„Aber ich kenne nicht mal ihre Namen“, gab Kasumi trotzig zurück.

„Weißt du, die Elfe war bei deiner Geburt dabei und trägt den Namen Cellura. Unter den Elfen ist sie als große Heilerin bekannt. Vielleicht kannst du etwas von ihr lernen. Der Elf ist ihr Ehemann, auch er half mir bei deiner Geburt und sein Name lautet Aramis. Er ist ein Elfenkrieger und beherrscht den Umgang mit Schwert und Bogen. Siehst du, du kennst die Elfen schon seit deiner Geburt“, sagte Arilena mit einem Lächeln.

Kasumi sah ihrer Mutter lange in die Augen. Doch in den grünen Augen konnte sie weder Zweifel noch Unsicherheit erkennen. Nur Stolz und Zuversicht. Unsicher blickte Kasumi zu Boden. Sie hatte es Feron zwar versprochen, die Kugel dem Drachenkönig zu bringen, aber dass sie sich bereits jetzt auf die Reise begeben sollte, war ihr zu viel. Sie schüttelte den Kopf und blickte ihre Mutter wieder an. Dabei traten Tränen in ihre Augen.

„Ich möchte dich nicht verlassen“, sagte Kasumi mit tränenerstickter Stimme.

„Ach, meine Kleine“, flüsterte Arilena und zog ihre Tochter zu sich. Beruhigend strich sie über den Kopf von Kasumi. „Als ich in deinem Alter war, verliebte ich mich in deinen Vater. Er wollte, dass ich mit ihm ging. Damals wollte ich aber meine Eltern nicht verlassen und ging nicht mit ihm mit. Erst Jahre später sah ich deinen Vater wieder, doch die Zeit, die wir ab da an hatten, war viel zu kurz. Hätte ich meine Eltern bereits früher verlassen, hätte ich mehr Zeit mit deinem Vater verbringen können. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Geh raus in die Welt und sammle so viele Erfahrungen, wie du kannst. Und wer weiß, vielleicht findest du unterwegs deine große Liebe.“

Mit Tränen in den Augen blickte Kasumi ihre Mutter an. Noch nie hatte ihre Mutter von ihrem Vater gesprochen. Die Geschichte nun zu hören machte sie traurig. Sie vergrub ihr Gesicht an der Brust ihrer Mutter. Die Wärme hüllte sie ein und Ferons letzte Worte kamen ihr in den Sinn. Du musst in die Drachenwelt gehen und eine Audienz beim Drachenkönig verlangen.

Erzähl ihm von meinen Wunden und dass das Land in Aufruhr ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Er wieder bei vollen Kräften ist. Sie wusste nicht, was dies bedeutete, aber tief in sich wusste sie, dass es nichts Gutes war. Sie nahm ihren Mut zusammen und blickte ihre Mutter an. „Ich habe es Feron versprochen. Ich werde sein Herz zum Drachenkönig bringen und mein Versprechen halten.“

Sanft strich Arilena ihrer Tochter über den Rücken. „Ich bin stolz auf dich, aber zuerst musst du deine Sachen packen.“

Kasumi fing an zu lachen und drückte ihre Mutter fest. Nach kurzer Zeit hörte sie, wie sich die Haustür öffnete, in der die beiden Elfen standen. Ein breites Grinsen zierte das Gesicht von Aramis.

„Wir werden schon auf dich aufpassen, Kasumi“, sagte Cellura.

Arilena nickte dankbar, bevor sie ihre Tochter aufforderte, ihr Zeug zusammenzusuchen. Gemeinsam mit ihrer Mutter packte Kasumi ihre Sachen. In die Tasche aus Wildleder packte sie Proviant für mehrere Tage und Wechselkleider. Ihre Mutter übergab ihr den weißen Bogen. „Der gehörte deinem Vater, nicht mir. Ich habe es vor dir geheim gehalten, da ich Angst hatte, dass du Fragen stellen würdest“, sagte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Er wird dich auf deiner Reise beschützen.“ Mit diesen letzten Worten schob Arilena ihre Tochter aus der Haustür und musste die Tränen unterdrücken.

Als Kasumi in die kühle Nachtluft hinaustrat, warteten die Elfen schon auf sie. Hinter ihnen standen drei wunderschöne Pferde. Sofort blieb Kasumi stehen und sah zu ihrer Mutter zurück.

Zu den Elfen sagte sie: „Ich kann nicht reiten.“

„Keine Angst, du musst dich nur festhalten“, erklärte ihr Cellura.

Die Elfe führte sie zu einem der Pferde. Sie nahm Kasumis Hand und

streckte sie mit der Handfläche nach oben dem Pferd entgegen. Erklärend sagte sie dabei: „So begrüßt du das Pferd. Nun wartest du, ob dich das Pferd auch begrüßt.“

Neugierig wartete Kasumi. Vorsichtig trat das Pferd näher und berührte mit seinen Nüstern Kasumis Hand. Warmer Atem strich über ihre Hand, bevor die weiche Nüster des Pferdes sich an ihre Hand drückte. „Sie hat dich akzeptiert. Nun kannst du auf das Pferd steigen.“

Hilfesuchend blickte Kasumi zu Cellura. Die lächelte nur und half Kasumi beim Aufsteigen. Als sie auf dem Pferd saß, sagte Cellura: „Ihr Name ist Silbermond.“

„Silbermond, ein schöner Name.“

Vorsichtig streichelte Kasumi das Pferd und hielt sich an der Mähne fest, da ihr die lederne Schlaufe, die um den Hals von Silbermond hing, zu unsicher war. Als alle auf den Pferden saßen, ritten sie los, und Kasumi sah zu ihrer Mutter zurück, die winkend vor dem Haus stand. Wieder traten Tränen in Kasumis Augen, doch sie wischte sie schnell ab und winkte ihrer Mutter zum Abschied zu. Als das Haus hinter einem Baum verschwand, blickte sie auf ihre zitternden Hände. Die Reise, die sie ab jetzt unternehmen sollte, war ihr unbekannt. Verstohlen blickte sie auf den Rücken der Elfen vor ihr. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: „Wo werden wir hinreiten?“

„Zuerst werden wir den Elfenwald durchqueren und dann in unserem Dorf für ein paar Tage bleiben. Danach werde ich dich mit meinem Drachen ins Drachenland fliegen“, sagte Aramis.

Sein Drache, wie kann das gehen?, fragte sich Kasumi.

Als hätte Aramis ihre lautlose Frage verstanden, drehte er sich zu ihr um und sagte: „Auserwählte Elfen schließen eine Verbindung mit einem Drachen. Jedoch wählt der Drache selbst, mit wem er eine Verbindung eingehen will. Ich weiß, es hört sich kompliziert an, aber mit der Zeit wirst du verstehen, was ich meine.“

Aramis drehte sich wieder um und sie ritten stillschweigend weiter.

Nach einiger Zeit erreichten sie den Elfenwald. Sie erhöhten das Tempo, da sie einem Wildwechsel folgten, der beinahe so breit war wie die Straße, die zu ihrem Dorf führte. Da sich Kasumi allmählich an den Rhythmus

der Stute gewöhnt hatte, fühlte sie sich wohl auf dem Rücken des Pferdes, sodass sie bald Spaß an dem Ritt hatte.

Sie ritten die ganze Nacht hindurch. Erst am nächsten Morgen machten sie eine kurze Pause und aßen etwas, danach ging es gleich weiter.

Sie drangen immer weiter in den Elfenwald vor und Kasumi bewunderte die Pracht des Waldes. Die Bäume waren etliche Meter hoch, und nicht einmal dann, als Kasumi den Kopf in den Nacken legte, konnte sie die Baumkrone eines Baumes ausmachen.

Erst als es Mittag war, bemerkte Kasumi, dass sie verfolgt wurden. Sie drehte sich um und entdeckte ein Löwentigerjunges. Es hatte bronzefarbenes Fell und hellblaue Augen, die Kasumi ansahen. Sofort erkannte sie, dass es eines der Jungen war, die immer bei ihr und Feron gewesen waren.

„Beachte es nicht weiter, es folgt uns schon, seit wir den Elfenwald betreten haben“, sagte Cellura.

Kasumi schaute das Jungtier noch einmal an, bevor sie Cellura und Aramis einholte.

Gegen Abend schlugen sie ihr Lager auf. Geschickt kletterte Cellura auf einen Baum und baute einen Unterschlupf. Als sie den Baum berührte, wuchsen Äste aus ihm, die sich zu einer Plattform verformten, darüber legte sie Schaffelle, die sie in der Nacht warm halten sollten. Währenddessen ging Aramis auf die Jagd. Kasumi wurde beauftragt, ein Feuer zu entfachen. Nicht weit von ihrem Lager entfernt fand sie Brennholz, mit dem sie versuchte, ein Feuer zu entfachen, was ihr aber misslang. Erst als Cellura ihr zwei Steine in die Hand drückte, klappte es. Kasumi schlug die zwei Steine aneinander, wodurch ein Funke entstand, der das trockene Holz entzündete. Langsam breiteten sich die Flammen aus und entzündeten auch die dickeren Äste. Die Wärme des Feuers machte Kasumi schläfrig. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt geschlafen hatte. Es kam ihr so vor, als wäre sie schon lange unterwegs. Als Cellura hinter sie trat, zuckte Kasumi zusammen. Beruhigend nahm

Cellura ihr die Steine aus der Hand und erklärte: „Das sind Feuersteine. Man kann sie sogar im Regen benutzen.“ Als die Elfe sah, wie müde Kasumi war, erwiderte sie noch: „Aramis wird bald da sein, dann können wir essen und uns danach hinlegen.“

Kasumi hörte der Elfe nur mit halbem Ohr zu, doch als sie sah, dass Aramis zurückkam und ein totes Reh über den Schultern hängen hatte, war Kasumi wieder hellwach. Wie auf das Stichwort fing ihr Magen an zu knurren. Cellura hinter ihr lachte und ging zu Aramis. Sie half ihm die Mahlzeit vorzubereiten. Es dauerte nicht lange und ein köstlicher Duft wehte zu Kasumi. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, und als das Essen fertig war, stürzte sie sich darüber. Sie schlang das saftige Fleisch mit großen Bissen hinunter. Erst als sie satt war, merkte sie wieder, wie müde sie war. Das warme Feuer trug auch dazu bei, und schon nach kurzer Zeit schlief sie am wärmenden Feuer ein.

Sie bemerkte nicht mehr, wie Aramis sie auf den Baum mit dem Unterschlupf hob und sie mit einem Schaffell zudeckte.

 

Wo immer ich hingehe, wird die Welt rot

 

Geschwächt erreichte Er das Ende des Elfenwaldes. Seine Wunde am Arm blutete immer noch stark und hatte sich entzündet. Die Verletzungen, die Er sich während des zweiten Kampfes gegen den Drachen zugezogen hatte, waren nicht so schlimm. Trotzdem schmerzten sie.

Mit langsamen Schritten kämpfte Er sich vorwärts und verfluchte seine Schwäche. Jeder Schritt tat ihm weh.

Nach kurzer Zeit erreichte Er ein Steinhaus. Die Tür stand offen, und weit und breit war niemand zu sehen. Er beschloss, das Risiko einzugehen, dass man ihn entdecken könnte. Er trat in das Haus ein und sofort umfing ihn wohlige Wärme. Ein Feuer flackerte munter im Kamin und auf dem Tisch standen noch Reste vom Essen. Hungrig, wie Er war, stürzte Er sich auf das Essen und verschlang es in schnellen Zügen. Als er satt war, durchsuchte Er das Haus.

Es gab zwei Zimmer. Ein Zimmer neben dem Kamin, das ein kleines Bett und eine Kommode beinhaltete, und ein größeres Zimmer, in dem ein Himmelbett, ein großer Schrank und ein Waschbecken stand.

Er entschied sich für das größere der beiden Zimmer und wusch seine Wunden im Waschbecken aus. Seine schmutzigen Kleider zog Er aus. Nach dem ersten Kampf hatte Er sich in seine Höhle zurückgezogen und dort frische Kleider gefunden, doch in seinem geschwächten Zustand konnte Er nicht lange im Wald überleben und hatte beschlossen, sich in der Menschenwelt zu verstecken. Nackt legte Er sich ins Bett und schlief kurz darauf ein.

Kalte feuchte Finger berührten seine Wunde am Arm. Schmerzerfüllt schrie Er auf und war sofort wach. Das Gesicht, das Er vor sich sah,

gehörte einer Frau mit braunen Haaren und strahlend grünen Augen. Beruhigend legte sie eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn zurück aufs Bett.

„Keine Angst, ich werde nur deine Wunden verbinden. Schlaf ruhig weiter“, sagte sie zu ihm.

Wie auf Befehl schlossen sich seine Augen wieder. Obwohl Er es nicht wollte, übermannte ihn der Schlaf.

Als Er das nächste Mal aufwachte, waren seine Wunden mit weißem Stoff verbunden. Seine Schmerzen waren weg, sodass Er ohne Probleme seinen Arm wieder benutzen konnte. Da Er noch geschwächt war, stand Er langsam auf. Die Tür war nicht weit entfernt, aber es kam ihm vor, als würde Er eine Ewigkeit brauchen. Als Er die Tür erreichte, öffnete Er sie. Im angrenzenden Raum saß seine Retterin auf einem Stuhl am Feuer.

Sie blickte auf, als Er den Raum betrat, und lächelte ihn freundlich an. „Na, geht es dir besser?“, fragte sie ihn.

Er nickte, doch als Er ihren Blick bemerkte, sah Er sie böse an. Erst als sie

aufstand und ein weißes Leinentuch holte, wurde ihm klar, dass Er noch nackt war.

Die Frau gab es ihm. Er nahm es an sich, doch ließ Er es zu Boden fallen. Ein sinnliches Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Die Frau ließ es jedoch kalt, dass Er sie begierig anstarrte. Sie drehte sich demonstrativ von ihm weg, um ihm zu signalisieren, dass sie von ihm nichts wollte.

„Mein Name ist übrigens Arilena. Hast du auch einen Namen?“, fragte sie ihn, während sie wieder auf dem Stuhl Platz nahm.

„Früher hatte ich einen, doch heute nicht mehr“, gab Er zur Antwort. Sein Lächeln war erloschen.

„Ich verstehe“, sagte Arilena und fragte nicht mehr weiter.

Sie bot ihm einen Stuhl an, doch Er lehnte ab.

Mit langsamen Schritten kam Er auf sie zu und stützte sich auf die

Armlehnen des Stuhls. Er blickte in ihre grünen Augen.

„Ich habe deine Kleider gewaschen und die Löcher genäht“, sagte sie kalt, dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.

Ich bin zu geschwächt. Ich brauche Nahrung, doch solange sie mich nicht an sich ranlässt, kann ich mich nicht von ihr nähren, dachte Er.

Also nickte Er dankend. Das weiße Leintuch hob Er auf, wickelte es um seine Hüfte und setzte sich auf einen Stuhl.

„Du bist keine Elfe“, stellte Er fest.

„Nein, sollte ich?“

Er wollte mit Ja antworten, aber da kam ihm in den Sinn, dass Er über

mehrere Jahre geschlafen hatte.

Es hat sich viel geändert in den Jahren, in denen ich schlief.

Früher wohnte eine Elfe in dem Haus am Rande des Elfenwaldes. Sie war die Hüterin und ließ niemanden passieren, der keine magischen Fähigkeiten hatte. Wenn sie starb, übernahm ihre Tochter ihre Aufgabe. Ihre Ahnenreihe reichte bis in die Jahre der Ersten Drachen zurück. Sie waren bekannt für ihre Heilfähigkeiten.

„Aber meine Mutter hat mir früher einmal erzählt, dass in uns Elfenblut fließt, deshalb kann ich auch Heilmagie einsetzen“, erklärte sie ihm. „So konnte ich deine Wunden ohne Probleme versorgen, aber sie sind noch nicht ganz verheilt.“

Er lächelte. Wie es aussieht, habe ich deine Nachfahrin gefunden, Nymue.„Kann ich dir etwas zu essen anbieten?“, fragte sie.

Er überlegte kurz und gab dann zur Antwort: „Ja, das wäre nett.“ „Was kann ich dir geben?“

„Dein Herz“, sagte Er und fing an zu lachen. Wie von allein erschien sein Schwert in seiner Hand.

„Wie es aussieht, kann mein Liebling es kaum erwarten Blut zu lecken“, sagte Er mit einem Lächeln im Gesicht.

Ängstlich wich Arilena zurück. Als Er sein Schwert schwang, rannte sie aus dem Haus. Er folgte ihr mit gemächlichen Schritten.

„Du kannst mir nicht entkommen!“, schrie Er in die Nacht hinaus.

Fasziniert von der Jagd, beschleunigte Er seine Schritte. Mit seinem Schwertarm holte Er aus und schlug auf den Boden. Sofort fing die Erde an zu beben und in der Ferne erkannte Er, wie Arilena stürzte. Sein fürchterliches Lachen erfüllte die Nacht.

Er sammelte seine Magie und ließ sie in seine Beine sinken. Dank der Magie war Er mit einem Schritt bei Arilena und schlug mit seinem Schwert zu. Blut flog durch die Luft und befleckte sein weißes Leinentuch. Die Frau schrie auf, doch bevor der Schrei ihre Lippen verließ, schlug Er ihr den Kopf ab.

Genüsslich betrachtete Er sein Werk. Der leblose Körper lag zusammengesunken auf dem Boden, in einigen Metern Entfernung sah Er den Kopf. Er kniete sich vorsichtig neben der Leiche nieder. Sein Schwert legte Er auf den Boden, woraufhin es verschwand. Mit seinen Fingern strich Er über den Körper der Frau, dabei spürte er die gewaltige Magie tief in ihrem Körper. Sein Magen fing an zu knurren, und als er ein Blick auf seine Magiereserven warf, wurde ihm klar, dass er sich dringend stärken musste. Mit einem Ruck riss er das grüne Gewand von Arilena entzwei. Gierig blickte Er auf die Brust der Toten. Sein Hunger wurde übermächtig. Während Er sich über die Leiche beugte, um den Geruch des Todes auf seiner Zunge zu spüren, glitt ein Teil seines Geistes in seine Seele. Mit seiner Magie erschuf Er einen silbrigen Dolch, den Er in die Brust von Arilena schlug. Ein irres Lachen stieg seine Kehle hoch und sein Magen fing an zu rumoren. Mit gierigen Händen schlitzte Er den Brustkorb auf, genoss, wie das restliche Blut über den toten Körper floss. Mühsam öffnete Er den Schnitt weiter, bis Er den Blick auf das Herz freihatte. Dürstend nach Fleisch zerrte Er das noch blutende Herz aus Arilenas Körper. Genüsslich biss Er in das noch warme Fleisch. Der Geschmack des Herzens kurbelte sein Blut an und Er konnte förmlich spüren, wie seine Kraft zurückkehrte. In wenigen Sekunden hatte Er das ganze Herz aufgegessen. Das Leintuch, das nun rot vom Blut der Frau war, zog Er aus und drapierte es neben der zerschundenen Leiche.

Nackt schritt Er zurück zum Haus. In dem großen Zimmer wusch Er sich erneut und zog seine frisch gewaschenen Kleider an. Danach trat Er aus dem Haus. Der Himmel schimmerte rot vom Sonnenaufgang. Das blutrote Licht erinnerte ihn an sein Festmahl. Ein schelmisches Lächeln glitt über sein Gesicht, während hinter ihm das Haus anfing zu brennen. Sein zerstörerisches Werk hinter sich lassend, begab Er sich auf den Weg ins Dorf.

Wo immer ich hingehe, wird die Welt rot.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Er das Dorf erreichte. Die Menschen begrüßten ihn freundlich und fragten ihn, woher Er kam. Er gab jedoch keine Antwort. Erst als ein kleines Mädchen von vier Jahren in ihn hineinlief, benutzte Er seine Stimme.

Freundlich fragte Er: „Geht es dir gut?“

Das Mädchen, das hingefallen war, hatte Tränen in den Augen, aber sie nickte tapfer. Ein Junge kam angerannt und half dem Mädchen hoch. Neugierig schaute der Junge ihn an. Er erwiderte den Blick.

„Du bist nicht von hier“, sagte der Junge frech.

„Nein, das bin ich nicht. Aber weißt du, was?“, fragte Er den Jungen. „Du auch nicht.“

Verwirrt über seine Aussage runzelte der Junge die Stirn. In diesem Moment sagte eine Frau: „Seht, dort ist Rauch!“

Alle Bewohner schauten in die Richtung, aus der Er kam. Panik brach unter den Menschen aus und ein Mann schrie: „Feuer, Feuer! Rette sich, wer kann!“

Eine Frau kam vorbei und nahm das kleine Mädchen und den Jungen mit. Er sah seelenruhig zu, wie die Menschen voller Angst herumrannten. „Ach, was sollʼs?“, sagte Er. „Bleibt alle ruhig!“, schrie Er mit seiner

Stimme, die durch seine Magie lauter ertönte.

Sofort blieben alle Menschen stehen und schauten zu ihm hin.

„Das Feuer wird nicht hierherkommen. Lasst es einfach brennen. Es wird schon heute Abend erloschen sein“, prophezeite Er den Dorfbewohnern, die ihm glaubten.

Die Panik war vorüber und so konnte Er seinen Weg fortsetzen. Bei einem Haus in der Mitte des Dorfes blieb Er stehen. Es bestand aus Stein. Ringsherum befand sich ein Zaun, dahinter grasten ein Pferd und Schafe. Ein Mann fütterte die Tiere. Als der Mann ihn erblickte, lächelte Er ihn freundlich an.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte der Mann.

„Ja, ich suche eine Frau namens Dela.“

„Ah, die Hexe. Folgt mir.“ Der Mann öffnete das Gatter am Zaun und

trat zu ihm. Gemeinsam gingen sie zum Marktplatz. Die meisten Dorfbewohner boten hier ihre Waren an. Sie suchten sich einen Weg durch die Menge. Während sein Führer sich um den Weg kümmerte, konnte Er seinen Blick schweifen lassen. Die Dorfbewohner waren alle sehr fröhlich und kaum ein böses Wort drang an seine Ohren. Auf ihrem Weg kamen sie an einer Statue aus Stein vorbei. Sie zeigte eine hübsche Frau mit spitzen Ohren.

„Das ist Nymue. Sie hat unser Dorf gegründet“, erklärte der Mann stolz.

Nymue. Ich habe dich anders in Erinnerung.

Währenddessen der Mann ihn weiterführte, dachte Er über die eben gesehene Statue nach. Damals waren Er und Nymue erbitterte Feinde gewesen, doch wenn Er die Statue genauer betrachtete, könnte Er sich vorstellen, dass Er sich mit der Elfe gut verstanden hätte, hätten sie sich unter anderen Bedingungen kennengelernt.

Sein Führer hielt abrupt an, wodurch Er beinahe in den Mann hineingelaufen wäre. Vor ihm befand sich ein Stall, der halb vermodert war, und überall lagen tote Tiere, die fürchterlich stanken.

„Hier wohnt sie. Hat mich gefreut, Ihnen helfen zu können.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Mann und konnte nicht schnell genug davonkommen.

Er betrat den Stall. Innen sah es nicht besser aus als außen. Spinnennetze hingen von der Decke und der Boden war voll von Kot. Mäuse huschten um seine Füße. Es sah so aus, als wollten sie ihm den Weg weisen. Also folgte Er ihnen. Er drang immer weiter in den Stall ein und stellte fest, dass der Stall viel größer war, als es von außen schien. Die Mäuse führten ihn zu einer Tür. Er öffnete sie und schloss geblendet die Augen. Magie prickelte auf seiner Haut, als er die Schwelle übertrat. Er spürte, dass er sich in einem anderen Reich aufhielt, dem Reich einer Hexe.

„Da bist du ja. Ich habe auf dich gewartet“, erklang eine klare Frauenstimme in dem Licht.

Als Er die Augen öffnete, sah Er, wem die Stimme gehörte. Eine Frau in einem weißen Gewand saß auf einem Stein. Ihre schwarzen Haare fielen ihr locker über den Rücken und ihre saphirblauen Augen leuchteten amüsiert.

Sie stand auf und kam auf ihn zu. Als sie bei ihm war, streckte sie ihre Hände aus und nahm eine seiner Hände. Sie führte ihn durch den Garten. Grünes Gras wuchs unter seinen Füßen und die Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin. Die Bäume trugen Blüten in allen Farben, von Weiß bis Schwarz, von Blau bis Grün und von Rot bis Violett. Ein kleines Bächlein durchzog die Graslandschaft. Das Wasser schimmerte im Licht

der Sonne.

Sie setzten sich auf eine makellos weiße Bank. Die Hände immer noch

ineinander verschränkt.

„Sag, was führt dich zu mir?“

„Ich suche nach meiner Magie, die vor Jahren hier im Land der Menschen

versiegelt wurde.“

„Dafür brauchst du meine Hilfe?“, fragte Dela verwundert und fing an

zu lachen. „Ich dachte, du hättest die Hüterin getötet.“

„Das habe ich auch, jedoch ist meine Magie noch nicht zurückgekehrt“,

gestand Er der Hexe und dachte nicht weiter darüber nach, woher Dela ihre Information zum Tod der Hüterin hatte.

Wahrscheinlich hat einer ihrer Diener es ihr zugeflüstert, dachte Er.

Ein fieses Lächeln zierte das wunderschöne Gesicht der Hexe, doch als sie sprach, wirkte sie alles andere als schön.

„Wenn das so ist, muss sie eine Tochter haben.“

Er überlegte kurz, wollte gerade etwas erwidern, entschied sich aber dagegen. Es war nicht ratsam, einer Hexe mehr Informationen zu geben, als sie ohnehin schon hatte.

„Scheint so“, gab Er monoton zur Antwort.

Wieder erschien das fiese Grinsen auf ihrem Gesicht. Auf ein Zeichen hin erschien in ihrer Hand eine Karte.

„Dies ist die Karte der Versiegelungen. Sie zeigt jede Versiegelung an, die jemals von den Elfen durchgeführt wurde“, erklärte sie ihm und reichte ihm die Karte.

Sie bestand aus Leder und mehrere rote Punkte leuchteten auf dem Leder auf. Flüsse und Dörfer der Menschen waren eingezeichnet und die Grenzen zwischen den Welten.

„Das sind aber eine Menge Versiegelungen.“

„Ja, ja. Du musst halt zu jedem dieser Orte reisen und schauen, ob deine Magie dort ist.“

„Ich danke dir“, sagte Er zu der Hexe und wollte aufstehen, doch Dela packte seinen Arm mit einem erstaunlich harten Griff.

„Die Karte ist nicht umsonst“, sagte sie bestimmt. Ihre Augen leuchteten angriffslustig und ihre Haare umschmeichelten sie gierig.

„Ich habe kein Geld bei mir.“

„Ich dachte nicht an Geld.“ Ein anzügliches Lächeln glitt über ihre Züge, doch Er wusste, dass eine Hexe immer mehr wollte, als sie anfangs zugab.

„Ich verzichte.“

Er riss seinen Arm los, sank in seinen Geist und suchte seine Magie. Die Kugel pulsierte ruhig vor sich hin, doch als Er sie berührte, wirbelte sie auf und verfärbte sich grau. Feine Fäden erschienen um ihn, und als Er

seinen Geist verließ, umschlangen die grauen Fäden die Hexe. Diese kreischte laut auf, als sie von der Magie gefangen wurde.

„Du hättest nichts verlangen sollen, jetzt wird es dein Untergang sein.“

Er verließ ihr Reich auf dem gleichen Weg, wie Er hineingekommen war, das panische Kreischen von Dela überhörte Er bewusst. Diesmal störte Er sich nicht an dem Unrat, der überall herumlag. Als Er aus dem Stall hinaustrat, setzte Er ihn mit seiner Magie in Brand. Das Feuer breitete sich schnell aus und die danebenstehenden Häuser gingen auch in Flammen auf.

Er sah auf die Karte, damit Er wusste, wohin Er gehen musste. Das lodernde Feuer ignorierend, lief Er durch das Dorf, das lichterloh in Flammen stand. Die Menschen rannten voller Panik herum und versuchten das Feuer zu löschen.

Das werden sie niemals schaffen, dachte Er und verließ das brennende Dorf.